Religiöse Themen nehmen – vom frühen Abendmahl, 1909, über das neunteilige Leben Christi, 1911-12, bis zum späten Gemälde Jesus und die Schriftgelehrten, 1951 – einen zentralen Platz im Schaffen des Malers ein. Martin Urbans OEuvrekatalog weist 1 Gemälde diese „biblischen und Legendenbilder“ aus. Unter den 20 Gemälden des Jahres 1926 sind allein fünf mit religiöser Thematik, darunter Die Sünderin. Vorbereitet durch eine Radierung von 1911 malte Nolde Die Sünderin vermutlich im Herbst 1926 in sienem Berliner Atelier in der Tauentzienstraße 8 „auf selbst grundiertem starkem Segeltuch (…) mit reinen, nur wenig gemischten Farben“ (Emil Nolde).
Im Evangelium des Lukas (7/46-48,50) heißt es zur Begegnung zwischen Chritus und der Sünderin: „Sie aber hat meine Füße mit Salbe gesalbt. Deshalb sage ich: Ihr sind viele Sünden vergeben. Darum hat sie mir viel Liebe erzeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. (…) Dein Glaube hat dir geholfen, gehe hin in Frieden.“
Emil Nolde aber gibt in seinem Gemälde nicht die Illustration der biblischen Legende, sondern die freie Paraphrase der neutestamentarischen Geschichte, der der Maler die beiden Pharisäer hinzugesellt. Eine streng flächenbezogene, geschlossene Komposition mit vier Augen im Anschnitt und im harten Kontur, drei davon im Profil. Vorn zurücksinkend und ins Bodenlose fallend die Sünderin mit ihrer um Vergebung heischenden Gebärde. Nackt und bloß, erloschen ihr Auge, fleckiges Rot auf den Wangen. Der Gliederpuppe nahe, fahles Gelbgrün des Leibes, das wie Herbstlaub des Lebens welkt. In ihrer Hilflosigkeit ist sie alles in einer Person: die Eva aus dem Sündenfall, die Ehebrecherin und die wohlfeile Dirne Maria Magdalena, das „gefallene Mädchen“.