• ArtistThe Atlas Group / Walid Raad
  • TitleThe Fakhouri File: Civilizationally, we do not dig Holes to bury ourselves
  • Year of Origin1999-2002
  • GenreGraphic
  • Technique and Dimension9 gerahmte Digitalprints, je 30 x 42 cm
  • Erwerbungsjahr2007
  • Erwerbung der StiftungYes

Walid Raad gründete in den späten 1990er-Jahren in Beirut das fiktive Kollektiv The Atlas Group. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Werke beschäftigen sich mit dem Libanesischen Bürgerkrieg von 1975 bis 1990/1991 und seinen Folgen, mit Erinnerung und Trauma, mit Krieg und Normalität und mit Autorschaft und Wahrheit.

The Fakhouri File, das umfangreiche Archiv des gleichfalls fiktiven, berühmten libanesischen Historikers Dr. Fadl Fakhouri, umfasst neben zwei Super-8-Kurzfilmen, Videobändern und Fotografien 226 Notizbücher mit Texten und Collagen, die als audiovisuelle, literarische oder fotografische Dokumente verstanden werden wollen. Eines der Notizbücher, die als Serie gerahmt ausgestellt werden, trägt die Nummer 72 und den Titel Missing Lebanese wars. In dieser Arbeit, die wie die anderen von einem Text begleitet wird, geht es um die Glaubwürdigkeit von Bildern. Dr. Fakhouri berichtet darin vom Zeitvertreib libanesischer Historiker, bei sonntäglichen Pferderennen nicht etwa auf das Siegerpferd zu wetten, sondern darauf zu tippen, um wie viele Sekundenbruchteile der exakte Moment des Pferdes auf der Ziellinie vom Fotografen verfehlt wird. Jede Seite dokumentiert die Wetten der Teilnehmer, die Ergebnisse und das Foto des Siegerpferdes aus der Ausgabe einer Beiruter Tageszeitung vom Folgetag. In Bleistift ergänzt Fakhouri einen Kommentar zum Charakter des jeweiligen Gewinners der Wette, zum Beispiel: „Er ist nicht einfach unglücklich, er ist genial darin. Kein Anlass ist zu trivial, in ihm eine Ekstase der Selbst-Kasteiung zu entfachen.“

Miraculous beginnings, einer der beiden Kurzfilme, reiht Aufnahmen Fakhouris von den Momenten aneinander, als der Historiker den Krieg für beendet hielt. In No, illness is neither here nor there hingegen folgt eine Aufnahme von Arzt- und Zahnarztpraxen auf die nächste – und zeigt so, dass es auch im vom Krieg zerstörten Beirut florierende Geschäftszweige gab. Drei Aktenkategorien bilden die Systematik des fiktiv-realen Archivs, dessen Bestandteil die Fakhouri-Akte ist: Typ A sind Dokumente, die einem identifizierbaren Individuum zugeordnet werden, Typ FD umfasst aufgefundene Dokumente und unter Typ AGP finden sich der Atlas Group zugeordnete Dokumente. Dies ist die materielle Grundlage für Ausstellungen, Performances und Veröffentlichungen der Atlas Group. Das Material deutet die Konstruktion von Geschichte als fortgesetzter Erzählung an, die sich aus Berichten und individuellen wie kollektiven Erfahrungen zusammensetzt.

Der so entstehende nur temporär im Ausstellungskontext immer wieder anders realisierte Archivraum ist ebenso zwischen Fakt und Fiktion angesiedelt wie die Atlas Group selbst – eine imaginäre Stiftung, deren Vorsitzender und einziges Mitglied Walid Raad selbst ist. Raad markiert mit diesem spekulativen Kollektiv Fragen zu Re-Präsentation, vermeintlicher Objektivität von Geschichtsschreibung und der Darstellung von Gegenwart.

Ina Dinter und Anna-Catharina Gebbers