Die beiden Materialmontagen Kathedrale und Die breite Schnurchel sind vermutlich 1923 bei einem Ostseeurlaub entstanden. 1946 erinnerte sich Schwitters: „1923 verbrachte ich zwei Wochen mit Arp und Hannah Höch in Sellin, wo ich mit Arp gemeinsam ein Gedicht schuf. Wir machten auch Bilder mit Treibholzstücken aus dem Meer.“ Wahrscheinlich sind sie schon damals in den Besitz von Hannah Höch übergegangen, mit der ihn eine besonders freundschaftliche Beziehung verband.
„Schwitters und ich“, so charakterisierte sie später ihr Verhältnis, „hatten beide die Neigung, noch ein wenig Romantik in die so pragmatisch gewordene Welt um uns zu schmuggeln. Aus diesem Grund gingen wir auf Abenteuer aus.“ lhre Abenteuer, das sind gemeinsame Reisen, Besteigen von Bergen und Felsen, Wanderungen, Sammeln von Strandgut am Meer und von ,Landgut‘ in den großen Städten, Berlin, Dresden, Prag, Den Haag.“ ( Ernst Nündel, 1981). Auf einem Atelierfoto, das vor 1925, während eines Besuches von Theo und Nelly van Doesburg bei der Berliner Künstlerin entstanden ist, sind sowohl das Konkrete Relief von Arp als auch Die breite Schnurchel von Schwitters zu sehen.
Diese beiden Werke gehören zu den wenigen Materialreliefs, die sich aus dieser Zeit erhalten haben und die aufgrund ihrer offensichtlich unmittelbaren Umsetzung vor Ort die lntentionen des Dada-Künstlers besonders deutlich werden lassen. Denn beide sind ausschließlich aus gefundenen Restteilen von Gegenständen zusammengefügt und fast nicht farbig aufbereitet, was bei Schwitters nicht sehr häufig auftritt. Er vertraut hier ganz auf die lapidare Eigenwertigkeit einfacher Holzstücke, die er am Strand aufgelesen und zu eigenen Kompositionen verarbeitet hat.
„Die Merzmalerei“, so lautete einer seiner Wahlsprüche, „bedient sich also nicht nur der Farbe und der Leinwand, des Pinsels, der Palette, sondern aller vom Auge wahrnehmbarer Materialien und aller erforderlichen Werkzeuge. Dabei ist es unwesentlich, ob die verwendeten Materialien schon für irgendwelchen Zweck geformt waren oder nicht. Das Kinderwagenrad, das Drahtnetz, der Bindfaden und die Watte sind der Farbe gleichberechtigte Faktoren. Der Künstler schafft durch Wahl, Verteilung und Entformung der Materialien.“ Diese Haltung weitet sich auch auf Assemblagen und Skulpturen aus.
Die Anregung für die Formfindung – beispielsweise für Die breite Schnurchel oder die Kathedrale – geht von den vorgefundenen Materialresten ehemals intakter Gebrauchsgegenstände und den in ihnen enthaltenen Gestaltkräften aus, die nun – jeglicher Funktionalitat weitgehend entbunden – eine Art Eigenleben entwickeln. Der gerade für solche Impulse aufnahmebereite MERZ-Künstler Schwitters, „inwendig voller Figur“, erkennt deren meist unbeachtete elementare ästhetische Wirkung und weiß zugleich um die provozierende Verfremdung, die mit der Wieder-Verwendung solch „unkünstlerischen” Materials verbunden ist.
Selbst die hohe Kultur der Formfindung, die Schwitters‘ Werken durchweg eigen ist, vermag nicht den Sachverhalt auszublenden, daß hier zwei ganz gegensätzliche Welten aufeinandertreffen und miteinander verschmelzen, ohne die unterschiedliche Herkunft aufheben zu können: Die rustikale Trivialitat des Alltäglichen stößt auf die freie, aus der geistigen Anschaulichkeit heraus gewonnene Zeichensetzung. Damit öffnet Schwitters nicht nur die Grenzen eines tradierten Kunstbegriffs, sondern sensibilisiert zugleich für die oft zu wenig wahrgenommenen Strukturen und Materialeigenschaften der uns umgebenden Objektwelt, gerade weil er – darin gewissermaßen ein später Romantiker – die fragmentierten, schon der Vergänglichkeit preisgegebenen Dinge zu neuer Funktion und Symbolkraft zurückführt.