• Laufzeit12. Februar 2012 - 13. Mai 2012
  • OrtNeue Nationalgalerie
  • Die Ausstellung wurde ermöglicht durch die Freunde der Nationalgalerie.

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Foto: David von Becker

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Am 9. Februar 2012 feierte Gerhard Richter seinen 80. Geburtstag. Zu Ehren eines der bedeutendsten Künstler der Gegenwart, den die britische Tageszeitung The Guardian 2004 als „Picasso des 21. Jahrhunderts“ titulierte, zeigt die Nationalgalerie in Zusammenarbeit mit der Tate Modern in London und dem Centre Pompidou in Paris die umfassende Retrospektive Gerhard Richter: Panorama.

Der Begriff Panorama entstammt dem Griechischen und besteht aus einer Verbindung der Worte „alles“ und „sehen“. Im deutschen Sprachgebrauch hat er sich als Synonym für Rundsicht oder Umsicht etabliert, für den freien Blick über 360 Grad. In der Umsicht erschließt sich das zu Sehende in einer Verbindung aus Zeit und Bewegung. Nicht eine Ansicht wird wahrgenommen, sondern viele Ansichten, die sich im Laufe des Rundblicks zu einer Einheit verbinden. Entsprechend ist die Ausstellung im Obergeschoss der Neuen Nationalgalerie als weite Umschau angelegt und entfaltet sich in großzügigen, offenen Räumen. Rund 140 Gemälde sowie fünf Skulpturen, die in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler ausgewählt wurden, geben einen Einblick in Richters vielschichtiges, über fünf Jahrzehnte hinweg entstandenes Werk.

Die Ausstellung ist chronologisch angelegt. Dadurch tritt das Besondere an Gerhard Richters Schaffen augenfällig zu Tage. Dieses Besondere liegt zum einen in der viel besprochenen Gleichzeitigkeit von abstrakten und figurativen Werken, zum anderen liegt es in dem Wechselspiel von Wiederholung und Veränderung, das sich in der chronologischen Abfolge der Werke offenbart. Bewusst haben wir uns also gegen eine Ordnung nach Themen oder Stilen entschieden. Denn ein solches Konzept würde das Besondere an Richters Schaffen geradezu verbergen, da es stilistisch oder thematisch Disparates auch dann voneinander trennt, wenn es zur gleichen Zeit entstand. In der Neuen Nationalgalerie eröffnet sich Ihnen dagegen ein Panorama, in dem figurative Darstellungen neben abstrakten Farbexperimente stehen, altmeisterlich anmutende Landschaften, Seestücke und Porträts neben Stadtansichten, die – in gestischer Auflösung begriffen – kaum noch als solche erkennbar sind. Die berühmten Vanitas-Motive wie Kerze und Schädel erscheinen in unmittelbarer Nähe zu expressiv-komplexen Abstraktionen.

An einem Punkt jedoch durchbrechen wir unseren Leitfaden der Chronologie: Wenn Sie das Museum und die Ausstellung betreten, fällt Ihr erster Blick nicht etwa auf das Gemälde Tisch von 1962, das als erstes Werk in Richters Werkverzeichnis genannt wird. Vielmehr sind Sie zunächst von den großformatigen abstrakten Rakel-Bildern umgeben, die das jüngst zurückliegende Schaffen Richters bestimmen. In unserer Ausstellung entfaltet sich das Panorama des künstlerischen Entwicklungsprozesses aus dieser Sphäre der Gegenwart heraus, bevor es am Ende des Rundgangs schließlich wieder in dieser Gegenwart mündet.

Gerhard Richter, 1932 in Dresden geboren, studierte an der Kunstakademie seiner Heimatstadt Wandmalerei und erhielt in der noch jungen DDR schnell erste Aufträge. Im Jahr 1959 wurde der Besuch der von Werner Haftmann geleiteten documeta II in Kassel für ihn zum Schlüsselerlebnis. Abstrakte Werke Jackson Pollocks und Lucio Fontanas beeindruckten ihn zutiefst. „Diese Unverschämtheit! Von der war ich sehr fasziniert und sehr betroffen. Ich könnte fast sagen, dass diese Bilder der eigentliche Grund waren, die DDR zu verlassen. Ich merkte, dass irgendetwas mit meiner Denkweise nicht stimmte“, erinnert sich Richter 1986. Im Frühjahr 1961, nur wenige Monate vor dem Mauerbau, verließ Richter gemeinsam mit seiner Frau Ema die DDR und gelangte über West-Berlin schließlich nach Düsseldorf. Doch folgte Richter – auch später, als er von 1971 bis 1993 als Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie lehrte – keineswegs geradlinig den im Westen dominierenden Entwicklungen. Die Radikalität, die Richter an den Werken Pollocks und Fontanas oder auch am künstlerischen Ansatz der Fluxus-Szene der frühen 1960er Jahre schätzte, wurde nicht zu seinem eigenen Weg. Den progressiven Tendenzen zur „Entgrenzung“ der Kunst setzte er das traditionsbehaftete Medium der Malerei entgegen und blieb der Malerei auch dort treu, wo er ihre Grenzen erforschte. Mit soviel Schelm wie Ernsthaftigkeit trat er Künstlergrößen wie Marcel Duchamp entgegen und widersprach etwa mit Ema (Akt auf einer Treppe) von 1966 Duchamps berühmter Zerlegung der Malerei im Akt eine Treppe hinabsteigend von 1912.

Auch der zunehmenden Vorherrschaft der Fotografie in der zeitgenössischen Kunstproduktion entsprach Richter auf ganz eigene Weise. Bereits in den frühen 1960er Jahren begann er mit den für sein Werk charakteristischen Fotogemälden. Grundlage sind Fotografien, zumeist aus Zeitschriften oder Familienalben, die vom Künstler vergrößert auf die Leinwand übertragen und nachträglich durch das Verwischen der noch nassen Ölfarbe verunklärt werden. Die wie von einem Schleier bedeckten, meist in Grautönen gehaltenen Sujets und dargestellten Personen, wie Richters Tante Marianne, die – an Schizophrenie leidend – im Zuge des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms in einer Anstalt für geistig Kranke verstarb, oder der in diesem Programm tätige Arzt Herr Heyde, der sich 1964 in seiner Gefängniszelle erhängte, gleichen ihrem Wesen nach Erinnerungen. Anstatt ihr Motiv klar zu fassen oder gar kritisch zu kommentieren, gibt Richter seine Vorlagen in einer Weise wieder, die auf die Bedingtheit und Begrenztheit bildlicher Repräsentation hindeutet sowie auf das eigene Unvermögen, Wahrheit zu vermitteln. Diese dem Gesamtwerk zugrunde liegende Reflexion über die kulturellen Bedingungen und Bedeutungen von Bildern stellt die innere Verbindung des Richterschen Panoramas dar. Jenseits seiner offenkundigen Vielgestalt erweist es sich als profunde Untersuchung der Mittel und kritische Überprüfung der Möglichkeiten aktueller Kunstproduktion. In Richters eigenen Worten ist es der „Versuch, die Möglichkeit zu erproben, was Malerei überhaupt noch kann und darf.“

Eine der Fragen, mit denen sich Richter durch alle Jahrzehnte hindurch beschäftigte, gilt dem Verhältnis der Malerei zur Wirklichkeit. Neben den bereits erwähnten gegenständlichen Bildern entstehen seit den 1960er Jahren ungegenständliche Werke – zunächst Farbfelder, die von Farbtafeln aus dem Künstlerbedarfsgeschäft inspiriert waren. Diese führen zu zufälligen Anordnungen farbiger Quadrate, zu denen beispielsweise Richters Fenstergestaltung für den Kölner Dom gehört sowie die Arbeit 4900 Farben. Die Version I von insgesamt elf Varianten dieser Arbeit wurde anlässlich der Berliner Ausstellung erstmals realisiert. Sie zieht sich als ein Band aus 196 quadratischen, in willkürlicher Folge angeordneten Emailfeldern um die gesamte Ausstellung.

Auch Richters intensive Beschäftigung mit Grau in allen Schattierungen bleibt nicht auf seine figurativen Fotogemälde begrenzt, sondern führt in den frühen 1970er Jahren zu einer vielseitigen Erforschung monochromer Malerei. In den 1980er Jahren löst sich Richter von der farblichen Reduktion. Es entstehen farbenreiche gestisch abstrakte Werke von meist großem Format, für die der Künstler immer häufiger einen Rakel – einen großen Schieber oder Spachtel, der über die feuchte Bildoberfläche gezogen wird – verwendet. Die fertigen Bilder weisen mehrere Bildebenen auf, die durch das Vermischen, Verschieben und Aufreißen der übereinander aufgetragenen Farbschichten in einer vom Künstler nur bedingt kontrollierbaren Weise ineinander greifen.

Die von Richter über fünf Jahrzehnte vorangetriebene Befragung des Mediums der Malerei erweist sich weder als Anfangs- noch als Zielpunkt seines Werks. Vielmehr bildet sie die konzeptuelle Grundlage seiner Arbeit. Die Ausstellung Gerhard Richter: Panorama führt dies vor Augen und zeigt dabei auch, wie die Reflexion über Malerei konsequenterweise zu deren Übertretung führt. Das Bild als Fläche, als Blickfeld und Durchblick leitet zu Richters künstlerischer Auseinandersetzung mit Spiegeln und Glasscheiben über. Diese treten – ähnlich den in täuschendem Illusionismus gemalten Vorhang- und Wolkenbildern – in einen Dialog mit der sie umgebenden Architektur Mies van der Rohes, die ihrerseits den Blick als Durchblick und die Frage nach dem Davor und Dahinter, dem Drinnen und Draußen ins Zentrum rückt. Der weißen Leinwand vergleichbar, die Richter als das perfekte Bild erachtet, verweisen seine Glasscheiben und Spiegel auf die Unendlichkeit möglicher Darstellungen und auf die gleichzeitige Begrenztheit dessen, was darstellbar ist.

Ergänzend zum Panorama in der Neuen Nationalgalerie ist in der Alten Nationalgalerie Gerhard Richters bekanntester Zyklus zu sehen: das 15-teilige Werk 18. Oktober 1977 von 1988. Eingebettet in die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts erinnert diese Gemäldeserie an die im Deutschen Herbst gipfelnden terroristischen Aktivitäten der RAF und die innenpolitische Krise der Bundesrepublik. Rund zehn Jahre nach der im Titel aufgerufenen Todesnacht von Stuttgart-Stammheim scheint sich Richter an seinen, dem Spiegel und stern entnommenen Bildvorlagen geradezu abzuarbeiten. Doch ruft Richter durch die Darstellung der vorwiegend toten Protagonisten und zugehöriger Indizien nicht nur die Ereignisse der Nacht des 18. Oktobers 1977 in Erinnerung. Vielmehr skizziert er auch die Komplexität der gesamtgesellschaftlichen Situation, in der sich das Drama des RAF-Terrorismus vollzog und thematisiert die Lähmung der jungen Demokratie angesichts ihrer Bedrohung sowie die verpasste historische Chance eines Reifungsprozesses. Nicht zuletzt lenkt Richter die Aufmerksamkeit auch auf die Nichtdarstellbarkeit dieses Dramas. Sein Zyklus handelt vom Scheitern – auch jenem des Malers und der Malerei.