• Laufzeit10. Februar 2010 - 22. August 2010
  • OrtNeue Nationalgalerie
  • Die Ausstellung wurde ermöglicht durch die Freunde der Nationalgalerie.

Der in Südtirol geborene und überwiegend in New York lebende Künstler Rudolf Stingel hat für die Neue Nationalgalerie eine ebenso schlichte wie beeindruckende Installation entworfen. Auf dem Granitboden in der großen Halle wurde ein eigens hierfür hergestellter Teppich ausgelegt. Das Muster des Teppichs geht auf einen alten, indischen Agra-Teppich zurück, den der Künstler besitzt und der zur Grundlage für das temporäre Kunstwerk wurde.

Rudolf Stingel hat das Ornament seines Teppichs zunächst in ein schwarz-weißes Bild übersetzt und anschließend digital vergrößern und mehrfach auf große Teppich-Bahnen drucken lassen. Zusammengefügt ergibt sich nun eine monumentale künstlerische Geste, ein schier unendliches Muster im Raum. Begleitet wird die Installation von einem großen Kristallleuchter, so dass sich schließlich verschiedenste Anspielungen auf die europäische Kultur- und Kunstgeschichte gegenseitig überlagern.

Agra-Teppiche und andere indische oder persische Teppiche gehören bis heute zu den markanten Kennzeichen des bürgerlichen Wohnens. Besonders verbreitet waren sie – zusammen mit allerlei anderen „Orientalia“ – in der Salonkultur des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. In opulent ausgestatteten Räumen standen die Teppiche für gehobenen Lebensstil, für humanistische Bildung, oder wie der Künstler Rudolf Stingel selbst hervorhebt, „für eine wohldosierte Sehnsucht nach dem Anderen“. Noch die Künstler der frühen Moderne, die Expressionisten etwa oder die UFA-Filmstars in Berlin, liebten die Exotik der üppig gemusterten Stoffe und Läufer.

Gegen eine solche, zumeist sehr überladene Wohnkultur richtete sich in den 20er Jahren die Ästhetik des Bauhauses: die Künstler dieser Schule gingen in ihren Bildern, Skulpturen und Bauten von elementaren Strukturen aus, forderten Klarheit und Prägnanz. Noch ganz in dieser Tradition entstand 1968 die Neue Nationalgalerie, erbaut von dem ehemaligen Bauhaus-Direktor Ludwig Mies van der Rohe. Mit Rudolf Stingel wird dieser Triumph der Moderne geradezu auf den Kopf gestellt. Seine Installation koppelt den streng gehaltenen Bau wieder an reich geschwungene Ornamente. Einen „modernen Tempel“ hat man die Neue Nationalgalerie oft bezeichnet – Rudolf Stingel macht daraus eine orientalisch geprägte ‚Kultstätte’. Sein Teppich lädt wie in der arabischen Wohnkultur oder gar in der Moschee zum Sitzen und Liegen ein – zu körperlichen Haltungen also, die in Europa eher als leger und privat gelten.

Über dem Teppich schwebt ein üppiger Kristallleuchter, der ironisch an pompöse Orte und glamouröse Auftritte erinnert. Zugleich unterstreicht er die unausweichlich europäische Sicht von Rudolf Stingel. Konkret illuminiert der Leuchter vor allem das Teppich-Ornament, das sich im offenen Glashaus schier bis ins Unendliche auszudehnen scheint.

Als starke, schwarz-weiße Struktur am Boden lässt sich die Installation somit auch als Kommentar zur Malerei lesen, etwa als Antwort auf den amerikanischen Künstler Jackson Pollock, der in den 50er Jahren mit emotional geladenen Farb-„Gesten“ auftrumpfte. Stingels Teppich-Spuren zeigen jedoch keinerlei individuelle Momente mehr. Die gesamte maschinelle Produktion ist unverkennbar. Nicht anders als wir alle heute, arbeitet Rudolf Stingel am Computer und bedient sich den Techniken des Scannens und Bearbeitens.

Seine Installation verweist auf eine distanzierte Rolle des heutigen Künstlers. Denn zum „Live“-Auftritt des Werkes gerät das Werk erst durch die „Performance“ der Besucher, die sich auf dem Werk bewegen und es damit auch immer wieder neu definieren.

Parallel zu dieser offenen Installation werden im Untergeschoss des Museums vier neu entstandene Gemälde des Künstlers vorgestellt, bei denen ebenfalls Weite und Unbegrenztheit des Raumes im Mittelpunkt stehen – diesmal jedoch angewendet auf Ansichten der Natur. Die vier Gemälde zeigen Alpenansichten, Gipfel der Meraner Berge und die Stafelalp bei Davos. Die Bilder basieren allesamt auf Fotos und bilden dabei auch Spuren der Geschichte mit ab, die sich in Kratzern oder Staub auf den Vorlagen erhalten haben.

Der „Live“-Charakter des malerischen Auftritts im Untergeschoss manifestiert sich hier besonders im Stafelalp-Gemälde. Es geht auf eine Vorlage von Ernst Ludwig Kirchner zurück, der sich nach dem ersten Weltkrieg dort niedergelassen hat und 1938 ebenda Selbstmord beging. Bei dem von Kirchner selbst geschossenen Foto hat sich auf dem Negativ neben der Landschaftsansicht auch Kirchners Fingerabdruck erhalten, der von Rudolf Stingel in sein Gemälde mit übernommen wurde.

Erneut verweist Stingel also auf Reproduktionsprozesse, stellt die eigene Arbeit höchst ironisch als scheinbar simplen Akt des bloßen Nachahmens dar. Die malerische Finesse allerdings der im noblen Grisaille gehaltenen Bilder lässt Rudolf Stingel als virtuosen Maler hervortreten. Die überwältigende Wirkung der Bergwelten ist zwar kalkuliert, verbindet Stingel jedoch mit romantischen Vorbildern, etwa denen von Caspar David Friedrich.