• Künstler/inJosef Scharl
  • TitelEcce homo
  • Entstehungsjahr1931
  • GattungMalerei
  • Technik und AbmessungÖl auf Leinwand, 49 x 43 cm
  • Erwerbungsjahr2009
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Das Gemälde „Ecce homo / Der Verstümmelte“ von Josef Scharl zeigt das Porträt eines Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg, dessen rechte Gesichtshälfte durch eine Kriegsverletzung entstellt ist. Aus dem Dunkel des Bildgrundes leuchtet über der olivfarbenen Uniformjacke und dem grünen Halstuch oder Pullover der Kopf dramatisch beleuchtet hervor, wobei die unversehrte Gesichtshälfte in hellem Gelb dargestellt ist, während das Ohr und die verstümmelte Partie mit der hinzu gemischten roten Farbe zu einer fleischigen Masse modelliert sind. Die Farbskala von Grün über Gelb zu Rot erscheint als Reflex auf der Brust des ehemaligen Soldaten in einer Reihe von Ehrennadeln. Zwar ist das Bild von eher kleinem Format, aber durch Konzentration, Farbgebung und Malweise ungeheuer eindrucksvoll.

Das Motiv hat einen autobiographischen wie zeitgeschichtlichen Hintergrund. Der Münchner Künstler Josef Scharl war im Ersten Weltkrieg nahe Verdun im Schützengraben verschüttet worden. Nachdem er ausgegraben worden war, konnte er eine Weile nicht mehr gehen, sein rechter Arm blieb zwei Jahre lang gelähmt, und zeitlebens litt er an heftigen Kopfschmerzen. Nach Ende des Krieges studierte der gelernte Dekorationsmaler, Lackierer und Vergolder Scharl an der Münchner Kunstakademie, reiste nach Italien und setzte sich intensiv mit dem Werk Vincent van Goghs auseinander, dessen pastosen Duktus er übernahm. Als Vertreter einer spätexpressionistischen Stilhaltung ging es Scharl inhaltlich in besonderem Maße um die sozialen Missstände seiner Zeit. Trotz der kritischen Tendenz seiner Malerei war er am Markt erfolgreich und erhielt 1931/32 ein Stipendium in der Villa Massimo in Rom.

„Ecce homo / Der Verstümmelte“ dürfte bei diesem Romaufenthalt entstanden sein. Möglicherweise liegt dem Motiv eine Fotografie aus dem Buch „Krieg dem Kriege“ zugrunde, in dem der Anarchopazifist Ernst Friedrich 1924 die Schrecken des Krieges dokumentierte, unter anderem in Porträtaufnahmen verwundeter, entstellter und verstümmelter Soldaten. 1925 gründete Friedrich das Anti-Kriegs-Museum in Berlin. In diesem historischen Kontext schließt das Gemälde an andere Darstellungen von Kriegsversehrten an, etwa an die 1920 entstandenen „Skatspieler“ von Otto Dix. Im Unterschied zu der grotesken Figuration und der bissigen Schärfe bei Dix bietet Scharl in seinem Bild eine sachliche Bestandsaufnahme. Doch auch diese bedeutete bereits Kritik, in einer Situation, in der – wie es 1931 der Fall war – militaristische Tendenzen wieder erstarkten, die einen erneuten Krieg mit sich bringen sollten.

In Scharls Darstellung thematisieren die beiden Gesichtshälften das Sehen und Nicht-Sehen. Den Krieg sehen und durch den Krieg erblinden, sehenden Auges auf den nächsten Krieg zusteuern oder aus dem Kriegserlebnis lernen, diese Optionen stehen dem Menschen offen, der sich einerseits – „Ecce homo“ – in die Situation gestellt sieht, andererseits aber auch immer aufgerufen ist, selbst zu entscheiden.

Dieter Scholz