Am 9. Februar 2012 feierte Gerhard Richter seinen 80. Geburtstag. Zu Ehren eines der bedeutendsten Künstler der Gegenwart, den die britische Tageszeitung The Guardian 2004 als „Picasso des 21. Jahrhunderts“ titulierte, zeigt die Nationalgalerie in Zusammenarbeit mit der Tate Modern in London und dem Centre Pompidou in Paris die umfassende Retrospektive Gerhard Richter: Panorama.
Der Begriff Panorama entstammt dem Griechischen und besteht aus einer Verbindung der Worte „alles“ und „sehen“. Im deutschen Sprachgebrauch hat er sich als Synonym für Rundsicht oder Umsicht etabliert, für den freien Blick über 360 Grad. In der Umsicht erschließt sich das zu Sehende in einer Verbindung aus Zeit und Bewegung. Nicht eine Ansicht wird wahrgenommen, sondern viele Ansichten, die sich im Laufe des Rundblicks zu einer Einheit verbinden. Entsprechend ist die Ausstellung im Obergeschoss der Neuen Nationalgalerie als weite Umschau angelegt und entfaltet sich in großzügigen, offenen Räumen. Rund 140 Gemälde sowie fünf Skulpturen, die in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler ausgewählt wurden, geben einen Einblick in Richters vielschichtiges, über fünf Jahrzehnte hinweg entstandenes Werk.
Die Ausstellung ist chronologisch angelegt. Dadurch tritt das Besondere an Gerhard Richters Schaffen augenfällig zu Tage. Dieses Besondere liegt zum einen in der viel besprochenen Gleichzeitigkeit von abstrakten und figurativen Werken, zum anderen liegt es in dem Wechselspiel von Wiederholung und Veränderung, das sich in der chronologischen Abfolge der Werke offenbart. Bewusst haben wir uns also gegen eine Ordnung nach Themen oder Stilen entschieden. Denn ein solches Konzept würde das Besondere an Richters Schaffen geradezu verbergen, da es stilistisch oder thematisch Disparates auch dann voneinander trennt, wenn es zur gleichen Zeit entstand. In der Neuen Nationalgalerie eröffnet sich Ihnen dagegen ein Panorama, in dem figurative Darstellungen neben abstrakten Farbexperimente stehen, altmeisterlich anmutende Landschaften, Seestücke und Porträts neben Stadtansichten, die – in gestischer Auflösung begriffen – kaum noch als solche erkennbar sind. Die berühmten Vanitas-Motive wie Kerze und Schädel erscheinen in unmittelbarer Nähe zu expressiv-komplexen Abstraktionen.
An einem Punkt jedoch durchbrechen wir unseren Leitfaden der Chronologie: Wenn Sie das Museum und die Ausstellung betreten, fällt Ihr erster Blick nicht etwa auf das Gemälde Tisch von 1962, das als erstes Werk in Richters Werkverzeichnis genannt wird. Vielmehr sind Sie zunächst von den großformatigen abstrakten Rakel-Bildern umgeben, die das jüngst zurückliegende Schaffen Richters bestimmen. In unserer Ausstellung entfaltet sich das Panorama des künstlerischen Entwicklungsprozesses aus dieser Sphäre der Gegenwart heraus, bevor es am Ende des Rundgangs schließlich wieder in dieser Gegenwart mündet.
Gerhard Richter, 1932 in Dresden geboren, studierte an der Kunstakademie seiner Heimatstadt Wandmalerei und erhielt in der noch jungen DDR schnell erste Aufträge. Im Jahr 1959 wurde der Besuch der von Werner Haftmann geleiteten documeta II in Kassel für ihn zum Schlüsselerlebnis. Abstrakte Werke Jackson Pollocks und Lucio Fontanas beeindruckten ihn zutiefst. „Diese Unverschämtheit! Von der war ich sehr fasziniert und sehr betroffen. Ich könnte fast sagen, dass diese Bilder der eigentliche Grund waren, die DDR zu verlassen. Ich merkte, dass irgendetwas mit meiner Denkweise nicht stimmte“, erinnert sich Richter 1986. Im Frühjahr 1961, nur wenige Monate vor dem Mauerbau, verließ Richter gemeinsam mit seiner Frau Ema die DDR und gelangte über West-Berlin schließlich nach Düsseldorf. Doch folgte Richter – auch später, als er von 1971 bis 1993 als Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie lehrte – keineswegs geradlinig den im Westen dominierenden Entwicklungen. Die Radikalität, die Richter an den Werken Pollocks und Fontanas oder auch am künstlerischen Ansatz der Fluxus-Szene der frühen 1960er Jahre schätzte, wurde nicht zu seinem eigenen Weg. Den progressiven Tendenzen zur „Entgrenzung“ der Kunst setzte er das traditionsbehaftete Medium der Malerei entgegen und blieb der Malerei auch dort treu, wo er ihre Grenzen erforschte. Mit soviel Schelm wie Ernsthaftigkeit trat er Künstlergrößen wie Marcel Duchamp entgegen und widersprach etwa mit Ema (Akt auf einer Treppe) von 1966 Duchamps berühmter Zerlegung der Malerei im Akt eine Treppe hinabsteigend von 1912.