Marcel Broodthaers
Un jardin d’hiver (objet – sujet), 1974-75
Künstler/in
Marcel Broodthaers
Titel
Un jardin d'hiver (objet – sujet)
Entstehungsjahr
1974-75
Erwerbungsjahr
2011
Für eine Gruppenausstellung im Palais des Beaux-Arts in Brüssel 1974 entwickelte Broodthaers erstmals eine raumgreifende Arbeit, die er „Un jardin d’hiver“ nannte und in der die Palme metonymisch für die bürgerliche Sehnsucht nach exotischen Ländern stand, die ihnen aber in der Konsequenz, jenseits des privates „Decors“ Wintergarten, als Orte der hemmungslosen Ausbeutung und des Gewinnstrebens galten (für sein Heimatland Belgien steht hierfür besonders die Kolonie Kongo, siehe J. Conrad, Das Herz der Finsternis).
Der Raum mit circa 26 Palmen, 16 Gartenklappstühlen, sechs Photoreproduktionen gedruckter naturhistorischer Schaubilder, Vitrinen u.a. Requisiten war gleichzeitig Drehort des Films „Un Jardin d’Hiver (ABC)“. Der Film wurde später auf einer Leinwand in der zweiten Fassung, in „Jardin d’Hiver II“ gezeigt. Danach entstanden andere Fassungen, wovon die letzte, hier vorgestellte, unvollendet blieb. Es handelt sich um eine Doppelprojektion von 80 Dias pro Karussell. Die für die Diaserien ausgewählten Bilder stammen aus Büchern des 17.–19. Jahrhunderts und zeigen eine Mischung aus naturwissenschaftlichen Illustrationen, exotischen Darstellungen trivialer Abenteuerbücher, Gartendarstellungen und vieles mehr; eine ungeordnete Enzyklopädie über die Wissenschaft und Dingwelt der Aufklärung, deren von Diderot und D’Alembert herausgegebenes Hauptwerk „L’Encyclopédie“ Broodthaers als Ausgangspunkt für viele seiner Werke diente.
Marcel Broodthaers verwendet die bürgerliche Variante der fürstlichen Orangerie, der Winterunterkunft exotischer Pflanzen barocker Gärten, um die Abwesenheit oder den zunehmenden Verlust der Poesie anzuzeigen. Schon im Titel verwendet er bewusst die Gegensätzlichung des „Wortbildes“ Winter-Garten, das die Gefahr des Kältetodes der Jahrhunderte währenden, reichen poetischen Naturbeziehung, herauf beschwört. Im Winter der konsequenten, antipoetischen Aufklärung ist der Garten verblüht, nichts erinnert an seine einstmalige, nicht rationalisierte Pracht, die Pflanzen in wissenschaftlichen Werken systematisiert, wie die Kunst in den Museen historisiert wird. Broodthaers arbeitet gegen das Absterben der Poesie und Magie in der westlichen Industriemoderne, die in ihrem materialistischen, wirtschaftlichen Weltbild den Garten zur Wüste verkommen lasst: „Diese Wüste, die in unserer Gesellschaft herrscht, die Wüste der Freizeitvergnügen, ja schließlich die Wüste des Kunstbetriebs.“ (M. Broodthaers in einem Interview mit Freddy de Vree, 1974).
Die Diaserien enden auf der einen Seite mit dem Positiv- und Negativbild der Darstellung einer „Laterna Magica“, einer frühen Form eines Diaprojektors, und auf der anderen Seite mit einer Malerpalette mit darunter abgebildeten unterschiedlichen Pinselstärken. Broodthaers stellt in diesen beiden Endbildern bewusst die Projektionen der Wissenschaft der Kunst gegenüber, wobei er durch die Auswahl und (Un)Ordnung der gezeichneten, noch nicht fotografierten Naturaufnahmen, die allesamt der wissenschaftlichen oder trivialwissenschaftlichen Aufklärung der Welt dienten, eine poetische Verzauberung schafft, gleichsam eine „Laterna Magica“ der Natur von der Kunst aus betrachtet. Der geordnete Garten fällt wieder zurück in seinen paradiesischen Urzustand, in die Magie seiner sich der Ratio entziehenden Sprache. Broodthaers agiert für diese „andere“, erst zu findende Sprache. Auf dem zur ersten Fassung des Wintergartens gedruckten Flugblatt, das jeder Besucher mitnehmen durfte, stand zu lesen: „… Zum Vergessen. Zum Schlafen, heiter und gut angepasst. Neue Horizonte treten in das Blickfeld. Ich sehe neue Horizonte auf mich zukommen und die Hoffnung auf ein anderes Alphabet.“
Eugen Blume