Kurt Schwitters
Kathedrale, 1923/26
Künstler/in
Kurt Schwitters
Titel
Kathedrale
Entstehungsjahr
1923/26
Technik und Abmessung
Holz, montiert, 39 x 17 x 17 cm
Erwerbungsjahr
1979
Die beiden Materialmontagen Kathedrale und Die breite Schnurchel sind vermutlich 1923 bei einem Ostseeurlaub entstanden. 1946 erinnerte sich Schwitters: „1923 verbrachte ich zwei Wochen mit Arp und Hannah Höch in Sellin, wo ich mit Arp gemeinsam ein Gedicht schuf. Wir machten auch Bilder mit Treibholzstücken aus dem Meer.“ Wahrscheinlich sind sie schon damals in den Besitz von Hannah Höch übergegangen, mit der ihn eine besonders freundschaftliche Beziehung verband.
„Schwitters und ich“, so charakterisierte sie später ihr Verhältnis, „hatten beide die Neigung, noch ein wenig Romantik in die so pragmatisch gewordene Welt um uns zu schmuggeln. Aus diesem Grund gingen wir auf Abenteuer aus.“ lhre Abenteuer, das sind gemeinsame Reisen, Besteigen von Bergen und Felsen, Wanderungen, Sammeln von Strandgut am Meer und von ,Landgut‘ in den großen Städten, Berlin, Dresden, Prag, Den Haag.“ ( Ernst Nündel, 1981). Auf einem Atelierfoto, das vor 1925, während eines Besuches von Theo und Nelly van Doesburg bei der Berliner Künstlerin entstanden ist, sind sowohl das Konkrete Relief von Arp als auch Die breite Schnurchel von Schwitters zu sehen.
Diese beiden Werke gehören zu den wenigen Materialreliefs, die sich aus dieser Zeit erhalten haben und die aufgrund ihrer offensichtlich unmittelbaren Umsetzung vor Ort die lntentionen des Dada-Künstlers besonders deutlich werden lassen. Denn beide sind ausschließlich aus gefundenen Restteilen von Gegenständen zusammengefügt und fast nicht farbig aufbereitet, was bei Schwitters nicht sehr häufig auftritt. Er vertraut hier ganz auf die lapidare Eigenwertigkeit einfacher Holzstücke, die er am Strand aufgelesen und zu eigenen Kompositionen verarbeitet hat.
„Die Merzmalerei“, so lautete einer seiner Wahlsprüche, „bedient sich also nicht nur der Farbe und der Leinwand, des Pinsels, der Palette, sondern aller vom Auge wahrnehmbarer Materialien und aller erforderlichen Werkzeuge. Dabei ist es unwesentlich, ob die verwendeten Materialien schon für irgendwelchen Zweck geformt waren oder nicht. Das Kinderwagenrad, das Drahtnetz, der Bindfaden und die Watte sind der Farbe gleichberechtigte Faktoren. Der Künstler schafft durch Wahl, Verteilung und Entformung der Materialien.“ Diese Haltung weitet sich auch auf Assemblagen und Skulpturen aus.
Die Anregung für die Formfindung – beispielsweise für Die breite Schnurchel oder die Kathedrale – geht von den vorgefundenen Materialresten ehemals intakter Gebrauchsgegenstände und den in ihnen enthaltenen Gestaltkräften aus, die nun – jeglicher Funktionalitat weitgehend entbunden – eine Art Eigenleben entwickeln. Der gerade für solche Impulse aufnahmebereite MERZ-Künstler Schwitters, „inwendig voller Figur“, erkennt deren meist unbeachtete elementare ästhetische Wirkung und weiß zugleich um die provozierende Verfremdung, die mit der Wieder-Verwendung solch „unkünstlerischen" Materials verbunden ist.
Selbst die hohe Kultur der Formfindung, die Schwitters‘ Werken durchweg eigen ist, vermag nicht den Sachverhalt auszublenden, daß hier zwei ganz gegensätzliche Welten aufeinandertreffen und miteinander verschmelzen, ohne die unterschiedliche Herkunft aufheben zu können: Die rustikale Trivialitat des Alltäglichen stößt auf die freie, aus der geistigen Anschaulichkeit heraus gewonnene Zeichensetzung. Damit öffnet Schwitters nicht nur die Grenzen eines tradierten Kunstbegriffs, sondern sensibilisiert zugleich für die oft zu wenig wahrgenommenen Strukturen und Materialeigenschaften der uns umgebenden Objektwelt, gerade weil er – darin gewissermaßen ein später Romantiker – die fragmentierten, schon der Vergänglichkeit preisgegebenen Dinge zu neuer Funktion und Symbolkraft zurückführt.
Dieser Widerstreit zwischen greifbarer Realitätsreibung und der Schaffung abstrakter Sinnzeichen – bei ihm oft von der Lust am Spielerischen, Zufälligen und Paradoxen überlagert – ist auch in diesen beiden Reliefs zu spüren. Beide erweisen sich als wohl ausgewogene, rhythmisch gegliederte Kompositionen, die aus dem nuancenreichen Nebeneinander vertikal angeordneter Reihungen ihre leicht sperrigen Spannungen beziehen. Selbst die Maserungen des Holzes sind einbezogen in das bewegte Wechselspiel aufstrebender Kräfte vor dem Hintergrund einer ruhig ausgebreiteten Grundfläche, die wie ein Resonanzboden die eckigen, leicht gerundeten oder verschliffenen Formen aufnimmt und ihnen zum Teil Halt für das Auskragen in den Raum bietet. Denn Schwitters' Formenwelt ist trotz aller Einbindung immer von einer starken inneren Dynamik erfüllt, die ins Grenzenlose vorzustoßen sucht. So wird der scheinbare, durch die Parallelität der einzelnen Teile signalisierte Gleichklang von Störungen durchbrochen und das Gesamtgefüge in eine gleichsam gegen die Mitte anarbeitende, konflikthafte Verspannung überführt. Die so einfach wirkende Zusammenfügung von Gegenstandsrelikten erhält den Charakter eines durchaus differenzierten Gleichnisses realer Konstellationen: So erinnert Die breite Schnurchel an eine (figurative) Gruppierung mit individuellen Momenten. Ähnlichkeiten, Gleichsetzungen und Unterschiede, aber auch Über- und Unterordnungen vermitteln das Bild vielfältiger Bezüge miteinander verbundener Teile. ln der Kathedrale hingegen wird die Spannung zwischen Bodenständigkeit und Vergeistigung, zwischen lastender und sich verflüchtigender Form in eine äußerst fragile Relation gestellt.
Von einer anderen lntention lässt sich Kurt Schwitters bei seinen Objektskulpturen wie der Kleinen Säule leiten, denn dort gewinnt das konstruktive Moment die Dominanz. Aber nicht nur die Notwendigkeit der aus sich selbst heraus zu garantierenden Stabilität, auch die generelle Lust Schwitters' am Bauen, die sein gesamtes Werk durchzieht, wird gerade in den Skulpturen besonders deutlich. Seine Tätigkeit als Werkstattzeichner im Eisenwerk Wülfel und das einjährige Architekturstudium an der Technischen Hochschule Hannover belegen zusätzlich solche Ambitionen. Schwitters arbeitete letztlich immer auch als Konstrukteur, aber als einer, der aus der Demontage des Funktionalen seine „Bausteine“ bezog, um sie in eine poetische, freigesetzte „Konstruktion“ zu verwandeln. Die Kleine Säule ist deshalb so etwas wie eine Huldigung an das Tektonische und an den Baugedanken schlechthin.
Fritz Jacobi